Zur Leipziger Buchmesse kam Julianes neue Benefiz-Anthologie “Like a (bad) Dream” zum 18. Geburtstag ihrer Homepage “Like a Dream” heraus. Darin finden sich alle möglichen, teils sehr düsteren, Geschichten wieder, die teils an Albträumen kratzen, an einer unerträglich bitteren Realität oder in den fantastischen bereich driften, der in vielen Fällen ein Spiegel der Realität ist (oder einen eigenen Sog in eine andere Welt, sei es auch eine Dystopie entwickelt).
Meine “Kurz”-Geschichte “Bestie” gehört zu den anderen Geschichten um Heinrich Wolff, der in “Hunger” zu einem Jäger wird (einer fleischfressenden, reißenden Version eines Vampirs), aber auch Konrad Lux (der dieses Mal der Protagonist ist) und Anni Beckmann (bereits bekannt aus “Warte, warte nur ein Weilchen”).
Diese Geschichte fasst sich ein zwischen dem Beginn von “Warte, warte …” im Juli 1918 und der eigentlichen Handlung im November 1918 ein, setzt aber selbst im ersten Teil im Jahr 1917 (in Arras) ein.
Hier habt ihr einen kleinen Ausschnitt aus der Geschichte:
Arras, Westfront, Schützengraben, Dienstag, 20. 03. 1917
Konrad schlug den Mantelkragen hoch und versuchte sich im Inneren des wassersteifen Stoffs vor dem sturzflutartigen Regen zu schützen, der auf sie alle niederprasselte. Für einen Moment war er versucht, den Helm neben sich zu legen, ließ es aber, denn ein Blick zu Heinrich verriet ihm, dass etwas in der Luft lag. Sein übersensibilisiertes, tierhaftes Gespür hatte bislang nie getrogen. Er saß mit in den Nacken gelegtem Kopf auf dem Boden, hielt den Helm mit einer Hand fest, beobachtete und lauschte. Konrad strengte sich an, mehr wahrzunehmen als die leisen Gespräche seiner Kameraden, das Geklapper des Essgeschirrs und das Prasseln der Tropfen auf den Bohlen: nichts. Was löste Heinrichs Anspannung aus?
Offenbar hatten auch andere bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Die Unterhaltungen nahmen ab. Etliche starrten Heinrichs zerstörte Züge an. Atemlose Stille trat ein. Fast fühlte es sich an, als habe die Zeit angehalten. Nur der stetig fallende Landregen strafte den Gedanken Lügen.
Eine fingerbreite Wasserschicht hatte sich auf dem Holz gebildet, und obwohl es in den Fugen versickert war, stieg der Pegel. Konrad legte seine flache Hand auf die Bohlen. Bis auf die Stiefeltritte von einigen seiner Kameraden nahm er keine Vibration wahr, dabei hätte er mit entfernten Gefechten gerechnet oder schweren Maschinen.
Er atmete aus und schaute wieder zu Heinrich. Dessen Nasenflügel blähten sich. Unsicherheit bohrte sich in Konrads Eingeweide. Wie zur Bestätigung begann die Beplankung in ihrem Rücken zu knarren. Er drehte sich um. Wurzeln hatten sich durch die Ritzen und Astlöcher geschoben. Konrad schluckte hart. Über kurz oder lang würden die Erdwälle in sich zusammensacken. Plötzlich fiel ihm das Atmen schwerer und ein Druck wie von Schlammmassen zwang ihn nieder. Sein Kragen wurde ihm zu eng. Mit zitternden Fingern versuchte er, den oberen Knopf zu lösen, glitt aber an dem nassen Hornmaterial ab. Ihm wurde heiß.
Panikattacke, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn er sich nicht zusammenriss, würde er einen Grabenkoller bekommen, ganz ohne Beschuss.
Sacht berührte Heinrich sein Bein mit dem Knie. Seine Nähe tat gut und half ihm zurückzufinden. Trotzdem hatte er das Gefühl in der Enge, Mann neben Mann, zu ersticken. Der kurze Moment reichte aus, dass sich seine Lungen erneut zusammenpressten. Er warf den Kopf in den Nacken, sodass sein Helm zurückfiel und der Kinnriemen in seinen Hals drückte. Mit einer Hand löste er die Schnalle und starte in den schlammgrauen Himmel. Kalte Tropfen prasselten ihm mit einer Heftigkeit ins Gesicht, dass es schmerzte. Aber es half ihm, sich zu beruhigen. Seine Sinne klärten sich. Tief sog er die kalte Luft ein und schloss die Augen.
„Hein, was is’?“, wisperte Gutleut. „Gefahr?“
Heinrich blieb ihrem Unteroffizier die Antwort schuldig. Als Fritz sich neben ihm auf die Füße stemmte, versetzte er Heinrich einen Schlag gegen die Schulter. „Du bist für nix gut!“
Eine kurze, scharfe Welle Wut wusch Konrads Angst fort. Er ballte die Fäuste, aber bevor er etwas sagen konnte, rammte Gutleut seinen Gewehrkolben auf die Bohlen, sodass das Essgeschirr einen Satz machte. Mit vorgeschobenem Kiefer bellte er: „Halt’s Maul, Dörsam!“
Fritz überhörte Gutleut mit voller Absicht und starrte Heinrich an.
„Wofür haben wir dich denn, du Tier?!“
„Nimm den Mund nicht so voll, Fritz!“, zischte Konrad. „Ohne Heinrich würden einige von uns nicht mehr leben!“
„Klar, aber jetzt?“ Fritz wandte sich ihm zu. In seiner Mimik lag blanke Verachtung. „Das Einzige, was er macht, ist wie ein Hund zu schnüff…“
Mitten im Wort knickte er ein und brach in die Knie. Über seine Lippen kam ein jämmerlicher Laut. Wütend starrte er Heinrich an, verbiss sich aber jeden Kommentar. Niemand lachte über ihn, nur Konrad konnte seine Missbilligung kaum zurückhalten.
Jeder sah Heinrichs Fähigkeit, Gefahren zu wittern und sie alle am Leben zu erhalten, als normal an, dabei hatte er sie sich mit seinem Leben und auf Kosten seiner einstmaligen Schönheit brutal erkauft. Die kurze Welle Zorn verebbte. Bis auf ihn kannte niemand Heinrichs Geheimnis. Besser, es blieb dabei. Er presste die Kiefer aufeinander, bis scharfe Stiche in Wangen und Nase zogen.
Von irgendwo über ihm kam das Brummen und Knattern von Propellern … Er zucke zusammen. Welche Maschinen waren es? Überall ließen die Männer ihr Essgeschirr fallen und griffen nach den Gewehren. Die ersten schnallten die Helme fest und stürzten zu den Leitern.
„Wartet!“, rief Heinrich. Seine Stimme klang belegt. Tatsächlich verebbte die brodelnde Bewegung. Angestrengt lauschte Konrad auf die Motorengeräusche der Doppeldecker. Für eine Fokker klangen sie zu … Er konnte es nicht richtig einordnen, ihm fiel nur falsch ein.
Jemand stieß gegen ihn, als er sich vorbeidrängte. Unwillig knurrte er.
„Das sind keine von unseren Fokker!“, rief jemand weiter hinten.
Konrad hielt den Atem an. Mit in den Nacken gelegtem Kopf starrte er nach oben in die grauen Wolken, bis seine Augen brannten. Sein Genick tat ihm nach einer Weile von dem Gewicht des Stahlhelms weh.
Er musste Meldung machen, konnte sich aber nicht rühren. Kamen sie überhaupt näher? Er kniff die Augen zu Schlitzen, um alles auszusperren, was sein Gehör behinderte.
„Das sind Aufklärer, vielleicht S.E.5A“, wisperte Heinrich. „Schotten oder Engländer vermutlich. Die wollen unsere Stellungen …“
„Weiß ich selbst.“ Konrad klang ungehaltener, als er wollte.
Das Pumpen der Luftverdrängung verdichtete sich. Sie kamen näher!
Ein furchtbar metallenes Scheppern brach in Konrads Konzentration ein und riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Er fuhr zu dem Feldtelefon herum. Kurt nahm ab.
Atemlos, als sei es sein erster Tag, stieß er in den Hörer: „Heeresgruppe Falkenhausen …“
Eine schrille Stimme schnitt ihm das Wort ab und drang ungehindert durch Konrads Ohr in sein Gehirn, nur um von schweren Donnerschlägen unterbrochen zu werden.
Das war Artilleriefeuer! Er fuhr zusammen. In irgendeinem Abschnitt wurden sie unter Beschuss genommen … aber warum drang der Lärm nicht bis hierher?
Ungeschickt richtete er sich auf. Heinrich zog die Knie an und machte ihm Platz. Rasch drängte Konrad den Frischling, Kurt Wachowski, zur Seite und griff nach dem Hörer. Just in dieser Sekunde überflog ein Doppeldecker den Graben. Konrad zog den Kopf zwischen die Schultern.
„Das sind britische Aufklärer!“, brüllte Gutleut über den Lärm hinweg. Konrad hörte instinktiv auf den scharfen Ton in seiner Stimme und legte den Kopf in den Nacken. Der Rotorenlärm verdichtete sich erneut und eine weitere S.E.5A schoss dicht über sie hinweg. Dieses Mal erkannte er die beiden blau-weiß-roten Flugzeugkokarden auf den Unterseiten der Tragflächen, die den Aufklärer zusätzlich als Teil der Streitkräfte der Entente auszeichneten. Er umklammerte den Hörer.
„Heeresgruppe Falkenhausen!“, donnerte er in die Sprechmuschel.Direkt neben seinem Ohr schien eine Granate zu explodieren. Der Schmerz drang durch die Muschel in seinen Kopf und erschütterte ihn bis ins Mark. Seine Knie sackten weg und der Hörer schlug auf die Bohlen. In seinem Kopf stampfte etwas Undefinierbares. Ein hoher, feiner Ton riss an seinen Nerven. Vor seinen Augen flimmerten Funken. Seine Welt bebte und die Erschütterung setzte sich in seinen Knochen fort. Er verlor die Bodenhaftung …