Hier wieder mal was Unheimliches zu Ollis Erbe – der Buchhandlung, dem Archiv und dem alten Mietshaus im Wiesbadener Rheingau-Viertel …
Eisnacht
Fahles Laternenlicht zerfaserte. Eisige Nebel hingen in den Straßen, zwischen den Häusern und dämpften jeden Laut auf ein unwirkliches Echo herab. Der Asphalt war glatt.
Durch die drückende Atmosphäre roch die Luft nach Abgasen. Unter den Gestank mischte sich der Duft nach Gebäck, Tannennadeln und Harz.
Oliver zog seinen Rollkragen aus der schäbigen Lederjacke und vergrub sich darin. Sein warmer Atem und der hautwarme Wollstoff vermittelten ihm den trügerischen Eindruck, nicht mehr so stark zu frieren. Seine Häsin Opa krallte sich unter Pulli und Jacke fest. Die Wärme des Tieres tat gut. Trotz allem wollte Oliver so schnell wie möglich wieder in seine beheizte Buchhandlung zurück. Unter seinem Arm klemmten mehrere schwere Lederfolianten, gründlich eingepackt, die er vom Restaurator abgeholt hatte. In Gedanken befand er sich bereits zu Hause. Die überfüllte Innenstadt verdeutlichte ihm, dass man in der Vorweihnachtszeit eher Zeit mit Familie und Freunden verbringen sollte.
Geiler Kommerz, dachte er verärgert.
Er sehnte sich nach einer heißen Dusche oder einem Bad. Der Gedankengang aufzutauen, war verlockend. Leider ging die Arbeit vor.
Mit weit ausgreifenden Schritten eilte er durch die Straßen. Er ignorierte die erleuchteten Schaufenster und die geschmückten Häuser.
Weihnachten? Ein Fest für Weicheier!
Als er endlich die Haustüre hinter sich ins Schloss drückte, fror er in dem Hausflur nur noch mehr. Die Wände atmeten Kälte aus. Es lag nicht an dem Winterwetter, sondern an dem bohrenden Gefühl, aus verschiedenen Richtungen beobachtet zu werden. Die Schatten dehnten und wanden sich vor seinen Augen. An manchen Stellen, direkt unter der Treppe, jenseits des Windfangs, ballten sie sich.
Zuckte dort nicht der konturlose Schädel eines Wächters? Oliver ballte die Fäuste. Unter seiner Jacke strampelte Opa. Sie spürte ihre Anwesenheit ebenfalls.
„Beruhig’ dich, Dicke.“ Seine Stimme bebte. Trotz allem fehlte das Gefühl wirklicher Angst. In all den Jahren, die er und seine beiden jüngeren Brüder hier lebten und arbeiteten, hatte er sich an die permanente Anwesenheit von Geistern gewöhnt. Aber er verabscheute die Wächter. Obwohl er sie nicht deutlich ausmachen konnte, spürte er die gesichtslosen Geisterfresser. Einer der Verdammten musste ihnen aus ihrer grell weißen Welt entkommen sein.
Opa strampelte heftiger. Mit einer Hand strich er über die zappelnde Beule in seiner Jacke. Das Tier beruhigte sich widerwillig. Sie fürchtete sich. Schaudernd tastete er nach dem Lichtschalter. In diesem verrotteten, alten Geisterhaus konnte einfach niemand leben.
Licht flutete die steilen Treppen. Tatsächlich kauerte ein Wächter unter der Treppe, auf der Rückseite seines Geschäftes. Das Wesen war außergewöhnlich klein. Oliver kannte drei bis vier Meter große Wächter. Trotz allem verlor das Geschöpf nichts von seiner Bedrohlichkeit. Der augenlose Schädel pendelte auf dem zwei Meter langen, dünnen Hals. Aus den ausgerissenen Winkeln seines Maules troff Speichel.
Es klaffte auf. Die fingerlangen, spitze Zähne riefen in Oliver unangenehme Erinnerungen wach. Diese Wesen jagten und fraßen Geister, die sich nicht an die Grenzen der hoffnungslose Spiegelwelt hielten und ausbrachen. Ihm war klar, dass die Wächter keine helfenden, freundlichen Geschöpfe hinter den Spiegeln fest hielten. Das, was sich dort verbarg, waren Monster.
Der massige Leib senkte sich, als der Wächter sich auf seine vergleichsweise kurzen, muskulösen Hinterbeine setzte, um sich vorne auf den doppelt so langen Vorderläufen abzustützen. Der Anblick erinnerte Oliver an eine groteske Mischung aus einem Dinosaurier und einem besonders hässlichen Hund.
„Was willst du?“ Oliver sah den Wächter herausfordernd an.
Ein tiefes Grollen drang aus der Kehle des Wesens.
Mit einigen Sätzen stand Oliver auf gleicher Höhe. Der Kopf des Wächters zuckte zu ihm. Fauliger Atem schlug Oliver ins Gesicht. Er wendete sich kurz ab. Der lange Hals reckte sich um ihn herum. Es schien fast, als suche der Wächter nach Olivers Aufmerksamkeit.
„Was willst du?“
Von dem Monster kam keine Reaktion. Lediglich sein abstoßender, flacher Schädel rückte näher.
„Wo bleibt deine Empathie? Sonst seid ihr doch auch hervorragend darin, mir den Kopf mit eurem bescheuerten Gedankengut zu füllen.“
Das Wesen reagierte nicht. Oliver umging den Wächter. Ihm war bewusst, dass mit dem Wächter irgendetwas nicht stimmte. Das Ding war nicht nennenswert größer als er selbst. Es zwang ihm auch keine Gefühle und Eindrücke auf, wie seine größeren Artgenossen. Kopfschüttelnd schloss er die Hintertüre des Ladens auf und öffnete den Stromkasten, um die Hauptsicherung einzudrehen. Die gelben Lampen flackerten, bevor sie wieder ausgingen.
„Scheiße!“ Oliver versetzte dem Kasten einen Schlag. Er legte die Bucher auf den Boden. Opa wurde bei der Bewegung zusammengestaucht und zappelte verärgert. Entnervt öffnete er den Reisverschluss und die Hüftschnallen, damit sie frei im Geschäft herumhoppeln konnte. Die massige Stallhäsin sprang mit einem weiten Satz auf den Boden und schlidderte auf den gebohnerten Dielen bis an die Kante zu den Stufen in das Ladenlokal. Nachdem sie sich gefangen hatte, klopfte sie mit ihren kräftigen Hinterläufen mehrfach aufgebracht und klapperte beleidigt mit ihren Zähnen. Er beobachtete, wie sie aus dem Lichtkegel des Treppenhauses, zwischen den Buchregalen verschwand. Ein unförmiger Schatten fiel auf den Boden. Feuchtheißer Atem schlug ihm in den Nacken. Er fuhr herum. Der Wächter kauerte auf der Schwelle. Sein Kopf pendelte keine Hand breit vor Olivers Gesicht.
Sein Magen verkrampfte sich. Ihm wurde schlecht. Zugleich ballte sich Wut in ihm.
„Verpiss dich!“ Er stieß den Kopf des Wächters mit der Hand zurück. Unbeeindruckt blieb das Wesen hocken.
„Bist du ein Hund?“, fragte Oliver entnervt. Er wandte sich kopfschüttelnd ab. Mit flinken Fingern drehte er eine Ersatzsicherung in den Kasten.
Das Licht flackerte. Unter der Decke entflammten mehrere archaische Kristalllampen. Oliver atmete auf.
Ohne dem Wächter weitere Beachtung zu schenken, hob er die Bücher auf.
Er warf er Jacke und Mütze auf den Tresen. Mit beiden Händen fuhr er sich durch den Iro.
Dielen knarrten. Erschrocken sah er sich um. Der Wächter blieb stehen.
„Was willst du nur?“
Erneut blieb der Wächter stehen. Ohne es begründen zu können, empfand er das Monster als vollkommen ungefährlich. Die Reaktion seiner Häsin sprach eigentlich dagegen. Opas Instinkt war ein untrüglicher Indikator für Gefahren.
Der Wächter reckte sich. Sein Maul klaffte auf. Aus den Tiefen seines Halses drang dumpfes Grollen. Speichel troff zu Boden. Trotz allem ging sein Augenloser Blick weit an Oliver vorbei.
„Was …“
Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, erfüllte ihn. Ein eisiger Hauch strich über seinen Rücken. Sofort begann er wieder zu frösteln. Die Härchen auf seinen Armen elektrisiert. Er kannte das Gefühl. Geistererscheinungen kündigten sich so an.
Langsam wandte er sich um. In der Mitte des Ladens stand ein kleines, zierliches, vielleicht fünfjähriges Mädchen, dessen dunkle Locken von einer schäbigen Schleife aus dem Gesicht gebunden wurden. Sie trug wollene Strümpfe und ein mattrotes Kleid. Über dem Die Armbinde mit dem Davidsstern zeichnete sie als Jüdin aus.
„Ruth?“ Obwohl er es nicht wollte, zuckte Oliver zusammen. Ungläubig starrte er seine kleine Geisterfreundin an. Bislang begleitete sie nie diese Todeskälte.
Im gleichen Moment schalt er sich einen Narren. Ruth war kein böses Geschöpf.
Ihre ewig verweinten Augen gaben ihr den Anschein verloren zu sein. Trotz allem lag erwachsener Ernst in ihrem Blick.
Der Wächter grollte immer noch hinter ihm.
„Ach, gib Ruhe!“ Er sah sich nicht zu dem Wesen um. Eilig trat er um den Tresen herum und setzte sich auf die Stufen.
„Was ist, Ruth?“
Sie erwiderte einen Moment seinen Blick und zögerte. „Der Wächter ist nicht wegen mir hier.“ Ihre erwachsene Stimme passte nicht zu dem Kinderkörper. „Ich weiß nicht, wer ausgebrochen ist, aber …“ Sie unterbrach sich, als würde sie lauschen. Das Grollen des Wächters nahm zu. Oliver sah über die Schulter. Das graue Monster schien sich aufzublähen. Kopf und Körper gewannen ständig an Masse. Binnen Sekunden füllte das Ding den schmalen Flur fast aus. An seinen Fängen troff grünlicher Schleim herab. Eine Woge unidentifizierbarer, bizarrer Gedanken drang in Oliver ein. Gefühle, die nichts Menschliches an sich hatten, durchdrangen seine Seele. Spinnfinger griffen in sein Wesen ein, zerrten alle Empfindungen hervor und wirbelten sie durcheinander. Tausend Stimmen explodierten in grellem Kreischen. Weißes Licht flackerte vor seinen Augen. Der antike Buchladen umriss sich scharf in schwarzen Schlagschatten: die Welt hinter den Spiegeln. Es tat weh. Oliver presste die Kiefer aufeinander. Er glaubte den Verstand zu verlieren. Sein Körper wurde von dem Wächter ausgehöhlt. Schwäche ergriff ihn. Er sackte bebend in sich zusammen.
Genauso brutal, wie der Wächter sich mit ihm verband, zog er sich auch zurück. Von einem Moment zum nächsten herrschte vollkommene Stille. Die Leere, die das Wesen zurückgelassen hatte, breitete sich in Eisnebeln aus.
Obwohl er den Laden sah, fühlte Oliver sich blind. Ein hoher, pfeifender Ton in seinem Innenohr signalisierte ihm, dass er wieder zu sich kam. Mühsam schüttelte er die Taubheit ab …
Schmerz durchzuckte ihn, als Opa ihre langen Nagezähne in seinen Finger rammte.
„Spinnst du?!“ Er zog die Hand weg und schob seine Häsin mit dem Stiefel zur Seite. Opa ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie sprang über die Stahlkappe hinweg und hockte sich zwischen seine Beine.
Oliver wich ihrem vorwurfsvollen Blick aus. Ruth stand nur einen Schritt von ihm entfernt. In ihren Augen glomm tief rotes Feuer. Ihre Lippen bebten vor Anstrengung. Hatte sie den Wächter etwa zurück gedrängt?
Ein formloser, heißer Leib berührte Olivers Rücken. Er fuhr herum. Der Wächter drängte sich an ihn. Weit über Oliver pendelte der Schädel. Er folgte der Richtung, in die das Wesen spähte.
Aus einer Ecke zwischen den Buchregalen wehte kalter Nebel in den Raum. Die Temperatur sank deutlich. Eine mächtige, böse Entität befand sich hier. Eiskristalle flirrten zu Boden. Schauer rannen über seinen Rücken. Die feinen Härchen auf seinen Armen richteten sich auf. Sein Atem kondensierte vor seinen Lippen. Trotzdem er fror, rann Schweiß über seine Schläfen. Irgendetwas Unvorstellbares kam.
Oliver sprang wütend auf. Etwas Vergleichbares war in all den Jahren, die er seit dem Selbstmord seines Großvaters hier lebte, nicht einmal passiert.
Opa zog sich zähneklappernd hinter ihn zurück, während der Wächter die Stufen hinab sprang. Ruth wich ihm in letzter Sekunde aus.
Sein Massiger Leib duckte sich zu Boden. Er zog den Hals an und wartete. Seine Klauen fetzten Splitter aus dem Holz. Er schien zu lauern.
„Was ist das, Ruth?“
Dicht neben Oliver materialisierte ihre Gestalt. Sie antwortete nicht, spannte sich aber.
Oliver musste wissen, was geschah. Er löste sich von ihrer Seite und spähte in den Gang zwischen den Regalen. Eis überzog Schaufenster, Boden und Bücher. Schemen zuckten über die sonst so staubige Scheibe. Die Buchhandlung wurde gespiegelt. Allerdings sah sich Oliver nicht in der Reflektion. An seiner Stelle stand ein ihm vertrauter Mann, sein Großvater.
Die grausamen, verfallenen Züge brannten sich in Olivers Verstand. Der Alte erinnerte an eine bizarre Karikatur eines Menschen. Alle negativen Emotionen hatten sich in die Mimik um den lippenlosen Mund gegraben. Helle, fast blinde Augen starrten aus tiefen Höhlen. Die Pergamenthaut riss bereits über den hohen Wangenknochen und dem massiven Kiefer. Der Geist entblößte Ruinen gelber Zähne, die kaum noch in den Resten des einst rosigen Gewebes saßen. Aus seinem Mund wand sich ein Klumpen schleimigen Fleisches.
Der Alte umklammerte mit beiden Armen Bücher. Aus den alten Werken troff Blut auf die Dielen.
Oliver stöhnte gequält auf. Einen Herzschlag später brach grell weißes Licht aus der Scheibe. Die Welt um ihn gerann zu flackernder Helligkeit. Zeitgleich verschob sich der Raum. Er war dem Geist nah genug, um ihn berühren zu können. Mit einem Satz brachte er Abstand zwischen sich und seinen Großvater.
Wo waren der Wächter, Opa und Ruth?
Olivers Blick irrte durch den verzerrten Innenraum des Ladens. Nichts, niemand. Er war mit seinem Großvater allein. Wütend knirschte er mit den Zähnen.
Der Alte umklammerte die Bücher. Sein Maul verzog sich zu einem grotesken Grinsen.
„Dein Leben für meine Freiheit!“
Seine Stimme klang wie Fingernägel auf einer Tafel. Oliver überlief eine Gänsehaut. Tief in seinem Herz bohrte Angst. Er kannte die Welt hinter den Spiegeln, schließlich war er schon einmal gestorben und wurde zurückgeholt. Wahrscheinlich hatte dieses Erlebnis seinen Geist für die Ebene der Toten sensibilisiert. Innerlich gefror er. Dieser Ort war erbarmungslos. Die Sünden, die im Leben begangen würden, geißelten die Seele auf ewig.
Er atmete tief durch. „Glaubst du wirklich, dass ich dabei mitmache?“ Er schüttelte den Kopf. „Vergiss es!“
Der Alte ließ die Bücher zu Boden gleiten. Zwei von ihnen schlugen an willkürlichen Stellen auf.
„Alles, was ich aufgebaut habe, vernichtest du!“ Der alte Mann ballte die Fäuste. Oliver spannte sich. Das Licht brannte in seinen Augen. Er musste sich beherrschen, nicht zu blinzeln. Schleichende Ermattung ergriff ihn. Lebenskraft floss aus ihm heraus. Er musste etwas unternehmen. Mühsam sammelte er Kraft.
Waren Geister für ihn nicht stofflich?
„Der Schatz, den ich zusammengetragen habe …“
Ohne Vorwarnung rammte er seinem Großvater die Faust gegen den Kehlkopf. Der Alte brach keuchend in sich zusammen.
„Was soll der Scheiß! Du hast dir das Leben genommen, du elender Feigling. Ansprüche kannst du gar keine mehr anmelden!“
Wütend drückte er den alten Mann nieder. „Was hast du getan, um an alte Bücher zu kommen?!“
Röcheln antwortete ihm. Oliver lockerte seinen Griff. „Was wirfst du mir vor?!“
Der Alte schlug seine Hand fort. „Skrupel!“ Seine gesplitterten, nikotingelben Klauen schossen vor. Oliver sprang zurück. Trotz seiner Reaktionsschnelle zogen die Nägel brennende Spuren über seine Brust.
Seine Energie ließ nun rapide nach. Keuchend trat er nach seinem Großvater, der wieder auf die Beine kam. Er hörte ein ungesundes Knacken in den morschen Knochen, als er mit dem Stiefel Schienbein und Knie traf.
Der Alte schrie.
Wie lang sollte dieser Kampf noch gehen? Mühsam richtete Oliver sich auf. Er musste diesen Ort verlassen, bevor seine Lebensenergie sich in der Welt hinter den Spiegeln verteilte.
Taumelnd drehte er sich im Kreis. Wo befand sich das Portal?
Die blendende Helligkeit war das Einzige, was er sah.
Rasch drehte er sich zu dem Alten um.
Sein Großvater hatte sich aufgerichtet. Er presste die Bücher wieder an sich. „Mein Leben …!“
Wie eine Katze sprang der Alte ihn an. Schmerzen empfand er keine mehr.
Oliver wankte zur Seite. Sein Gleichgewicht setzte aus. Für einen furchtbaren Moment wusste er, dass sein Großvater gewonnen hatte. In der gleichen Sekunde löste sich etwas in seinem Verstand. Plötzlich sah er die Welt anders, klarer. Stimmen flirrten um ihn herum. Tiefe, dunkle Gefühle fluteten seine Seele. Vollkommen neue, monströse Stärke rann durch seinen Körper. Er wusste unumstößlich, dass etwas Unmenschliches von ihm Besitz ergriffen hatte. Der Gedankengang ging so schnell, wie er kam. Einen Augenblick lang kannte er sogar die Antwort auf seine Fragen. Als die Klauen seines Großvaters in seine Brust drangen, verwischten die Eindrücke.
Es tat nicht weh. Er starb nicht … Die Arme des Alten steckten bis zu den Ellbogen in seinem Körper. Der Blick der hellen Augen wechselte von Triumph zu Entsetzen.
Oliver spürte, wie er die Macht über seine Handlungen verlor. Ein anderes Bewusstsein nistete sich ein, beherrschte ihn. Mit aller Kraft versuchte er den Eindringling zurück zu drängen. Ein stechender Schmerz in seinen Schläfen ließ ihn zusammen zucken. Er hörte das Grollen des Wächters in seinen Gedanken.
Gib nach!
„Nein!“
Wir sterben.
„Nie!“
Er ist ein Mörder.
„Ich …“ Oliver wurde schlecht. Er wusste, dass sein Großvater getötet hatte. Ihm fiel es immer schwerer, dem Bewusstsein des Wächters Stand zu halten.
Er hat seinen Schatz mit Leben erkauft.
Obwohl ihm das keine Neuigkeit war, erschütterte ihn diese Wahrheit. Der Wächter nutzte seine Chance. Von einer Sekunde zur nächsten zwang ihn das Wesen in die Position des Beobachters. Oliver war nicht mehr Herr seines Körpers …
Sein Kopf zuckte gegen die Kehle seines Großvaters. Ein schwacher Hauch Entsetzen berührte sein Herz, bevor sich seine Zähne in die Kehle des Geistes schlugen und sie heraus rissen.
Bebend starrte Oliver auf seine Brust. Nichts. Dort, wo der Geist gestanden hatte, lagen nur ein paar Bücher, die vom Auslagentisch heruntergefallen waren. Das warme Licht der Kristalllampen umfing ihn. Er befand sich wieder in der Realität. Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass der Wächter diese Ebene verlassen hatte. Ruth hockte auf den Stufen, Opa neben sich. Ihre Augen schimmerten feucht. Zum ersten Mal sah er sie weinen.
„Was ist denn, Kleines?“ Auf unsicheren Beinen wankte er zu ihr und ließ sich neben sie fallen. Ruth lehnte sich an ihn. Wie selbstverständlich wischte sie ihr feuchtes Gesicht an seinem Pullover ab.
„Hey, lass das mal nicht zur Gewohnheit werden!“
Sanft umarmte er sie. Ruth seufzte. „Es ist gut, dass du zu ihnen gehörst.“
„Was?“
Sie richtete sich auf. „Du bist einer der Wächter, nur auf der anderen Seite der Spiegel“, entgegnete sie. Mit einer Hand zupfte sie an ihrem Rocksaum.
Eisiger Schrecken rann durch seine Adern. „Quatsch …“
Sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Warum glaubst du, sammeln sich Geister in deiner Nähe?“
Er hob die Schultern. „Weil das ein verdammtes Haus ist?“
Vehement schüttelte sie den Kopf. „Du bist einer der Wächter. Die Grauen sind deine Gefährten.“
Er legte die Stirn in Falten. „Und woher weißt du das, Fräulein Naseweis?“
Mit gehobenen Brauen und dem Tonfall einer Erwachsenen entgegnete sie: „Weil dein Großvater – mein Vater – schon einer war.“
Oliver zuckte zusammen. „Niemals!“
Sie lachte humorlos auf, bevor sie sich erhob. „Er ist für die ruhelosen Seelen verantwortlich, Oliver.“ Ihre Stimme nahm einen beschwörenden Klang an. „Um an die ganzen Werke zu gelangen, opferte er hunderte Menschen. Ihr Leben ist an diesen Ort und an die wertvollen Bücher gebunden.“ Sie drehte sich im Kreis. Mit einer Hand strich sie über ihre Brust. „Er hat sogar meine Mutter und mich geopfert.“ Oliver erhob sich. Behutsam zog er den Kinderkörper an sich und streichelte ihren Kopf. „Es ist vorbei, Ruth. Dein Vater kann dir und deiner Welt nie mehr gefährlich werden.“